SVEN KLAMANN

Wer das Museum Eberswalde für einen Ort hielt, an dem vergilbte Zeitzeugnisse in Glasvitrinen verrotten und historische Akten verstauben, war schon vorher auf dem Holzweg. Doch spätestens seit „Tatort Lücke“ die Barnimer Kreisstadt begeistert, dürfte jeder, der sich auch nur einigermaßen für Geschichte interessiert, vom genauen Gegenteil überzeugt sein. „Tatort Lücke“ ist genau das, was seine Macher vom Museum und vom Kanaltheater, unterstützt durch die Hochschule für nachhaltige Entwicklung, die Bürgerstiftung Barnim Uckermark, den Verein für Heimatkunde zu Eberswalde, das Alexander-von-Humboldt-Gymnasium und das Kreisarchiv Barnim, vom ersten Projekttag an versprochen haben: ein ungemein spannender Stadtkrimi. Eine mitreißende Suche nach Leerstellen. Nach Gebäuden, Plätzen und/oder Ereignissen, die vom Gras der Zeit überwachsen sind. 

Nicht allein die Ensemble-Mitglieder des Kanaltheaters konnten in den sechs Stadtkrimi-Folgen, die der furiosen Eröffnungsperformance auf dem Marktplatz gefolgt sind, in die Rollen von Kommissaren oder Gerichtsmedizinern schlüpfen.  Die Neuinszenierung konkreter geschichtlicher Geschehnisse, gewohnt gekonnt dargeboten von den Schauspieler*innen, hat jedes Mal aufs Neue vor allem dadurch an Echtheit und Glaubwürdigkeit gewonnen, dass Zeitzeugen und anderweitig persönliche Betroffene beteiligt waren, die mit ihren subjektiven Schilderungen dazu beitrugen, Leerstellen in der Stadtgeschichte zu schließen, fast Vergessenes in die kollektive Erinnerung zurückzuholen und damit Historie lebendiger zu machen. Das war beim berührenden ersten „Tatort Lücke“ der Fall, in dem von den Bewohner*innen des längst nicht mehr stehenden Hauses an der Goethestraße 23b berichtet wurde, die Eberswalde 1938 verlassen mussten, nur weil sie Juden waren. Das traf zudem auch bei den „Tatort Lücke“-Folgen über Meyers Radrennbahn in Finow, die Gaswerk-Explosion am Finowkanal, das Kaiserbad am Weidendamm, den Ungarnspielplatz im Leibnizviertel und den Mühlenteich zu, der 600 Jahre lang im heutigen Stadtzentrum existierte. Jede einzelne dieser besonderen Vorstellungen war bestens besucht. Und häufig beließ es das staunende Publikum, wenn es nicht ohnehin in die Inszenierung eingebunden war, keineswegs beim bloßen Zuschauen. Manche Wortmeldung, die getätigt wurde, nachdem der symbolische letzte Vorhang gefallen war, brachte weiteres Licht ins Dunkel verblassender Erinnerungen, das aufzuhellen erklärtes Ziel aller Beteiligtenr war. 

Und auch das zeigt die beeindruckende Sogkraft des Projektes: All diese Leerstellen der Eberswalder Geschichte wurden nur bespielt, weil die Eberswalder*innen dies so wollten. Partizipativer lassen sich Recherche-Aufträge nicht vergeben. Über die Lücken, denen beim Stadtkrimi nachgegangen werden sollte, haben ausschließlich die Besucher*innen einer ganz besonderen Ausgabe von Guten Morgen Eberswalde abgestimmt, indem sie nach eigenem Gutdünken alles in allem 500 Tischtennisbälle auf zwölf Glasröhren verteilten, die jeweils eine Forschungsaufgabe repräsentierten. Die zwölf in dieser Endrunde zur Debatte stehenden möglichen Schauplätze für Tatort-Folgen zur Stadtgeschichte wiederum waren unter sage und schreibe 48 Vorschlägen ausgewählt worden,  die wissensdurstige Einwohner*innen zuvor im Lückenlabor abgegeben hatten. Dieses Lückenlabor, unter anderem mit Mikroskopen, Einweckgläsern für die Aufbewahrung von Beweismitteln und Nachschlagewerken ausgestattet sowie unterm Dach des Museums eingerichtet, war so etwas wie der Szenetreff für alle, die beim „Tatort Lücke“ mitgemischt haben. Hier kamen die Macher vom Museum und vom Kanaltheater zusammen, um ihr weiteres Vorgehen abzusprechen, hier haben Schüler*innen  aus dem Alexander-von-Humboldt-Gymnasium Pläne dafür geschmiedet, wie in Gesprächen mit an Lebensjahren alten Eberswalder*innen Erfahrungsschätze gehoben werden könnten, die noch in keiner Aufzeichnung festgehalten wurden. Und hier haben Eberswalder*innen, die zum Beispiel durch die Eröffnungsperformance mit ihrem zwar spektakulären, aber zum Glück nur fiktiven Entführungsfall oder durch die überall in der Barnimer Kreisstadt verteilten „Tatort Lücke“-Karten zum Mitmachen eingeladen worden waren, ihre Ideen für Leerstellen eingereicht. Immer ging es um Vergangenes, das als bedeutend genug empfunden wurde, die Erinnerungen daran aufzufrischen. Das Lückenlabor, so viel steht bereits fest, wird im Museum weiter existieren, wenn der Stadtkrimi mit der Abschlussperformance längst beendet ist. Denn auch dies wurde bei dem für Eberswalde so wichtigen Projekt, das die Kulturstiftung des Bundes mit insgesamt 135 000 Euro aus dem Programm „Stadtgefährten“ gefördert hat, deutlich herausgearbeitet: Keine einzige Erkenntnis, die beim Stadtkrimi gewonnen wurde, bleibt ungenutzt. Der Aufbau eines digitalen Wissensspeichers, der die Ermittlungsergebnisse zu den Leerstellen der Eberswalder Historie dokumentiert und nachhaltig zugänglich macht, ist fester Bestandteil vom „Tatort Lücke“ und wird die Museumsarbeit der Zukunft bereichern. 

Nachhaltigkeit ist auch ein gutes Stichwort für die Reihe „Tatort Lücke im Gespräch“, die zum Begleitprogramm gehörte. Egal, ob ein Theaterwissenschaftler mit seinen Ausführungen zu Re-Enactments, also über die Wiederbelebung oder Neuerfindung einstiger Ereignisse, den theoretischen Überbau für die beim Projekt praktizierte theatralische Form der Geschichtsforschung lieferte, ob eine Buchautorin mit Zeitzeugen am Beispiel des nach der Wende abgerissenen „Hauses der Kultur“ über „Schichten und Substanz“ philosophierte oder es um Ausblicke für das Museum Eberswalde nach dem letzten Kapitel im Stadtkrimi ging: jedes Mal wieder ist es dabei zu Diskursen gekommen, die nachwirken werden. 

Das Fazit nach einem denkwürdigen Theater- und Museumsjahr, das für alle Beteiligten wie im Fluge vergangen sein dürfte, kann nur lauten: Jede einzelne „Tatort Lücke“-Folge hat ebenso unterhaltsam wie informativ Leerstellen sichtbarer gemacht. Eberswalde hat es verdient, dass auch fast vergessene Episoden seiner Geschichte weiter erforscht werden. Und der Abschluss des Projekts weckt Lust auf mehr. Fortsetzung folgt. Über das Wie wird noch zu reden sein.  

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