TOM MUSTROPH

Kontrast und Gemeinsinn

Das Kanaltheater Eberswalde und sein besonderes Verhältnis zum Publikum

Was auf der Straße liegt, manchmal auch unter dem Pflaster, zuweilen überwuchert von Pflanzen und überbaut von Gebäuden, aber immer präsent, weiterhin Herzen und Hirne formend- das sind die Stoffe, aus denen das Kanaltheater seit 2013 in und um Eberswalde seine Stücke kreiert. Die Theatermacher:innen fungieren dabei als Seismograf:innen und Forensiker:innen. Sie hören auf die, die nebenan wohnen, die zum gleichen Bäcker gehen, an der gleichen Stelle in den See steigen. Aus Begegnungen werden Interviews, aus einem Interview viele andere. Die Gespräche und Dialoge fügen sich zu einem rhizomatischen Geflecht aus selbst gelebten Ereignissen und von anderen gehörten Geschichten. Es handelt sich dabei um Erzählungen von Verlust, wie dem Wegbrechen von Arbeit, dem Weggehen der Kinder, dem Verschwinden der Hoffnung. Es können aber auch Erzählungen von Widerstand und von Trotz, von fröhlicher Begegnung, von Narrenstreichen sogar sein. Solche Interviews, vertieft mit weiteren Recherchen, fließen zuweilen in klassische dramatische Texte ein. Sie verwandelten etwa 2017 Heinrich von Kleists „Kohlhaas“ in ein Aufstandsstück, mit Bürokratie-Irrgarten, mit Atommüll-Protesten, mit Frust, Widerstand. ???? 

Manchmal gräbt sich die Recherche noch tiefer in die Zeit ein. Die Reihe „Tatort Lücke“ (2018) belebte sechs längst vergessene Orte. Vorgeschlagen wurden sie von Eberswalder Bürger:innen. Partizipation, oft ganz natürlich im Arbeitsprozess gewachsen, wurde in diesem Jahresprojekt konzeptionell ausgebaut mit einem Aufruf an „Lücke-Forscher:innen“ aus der Stadt, Geschichtslabors im Museum, kollektiven Tatortbesichtigungen und Investigationen in Interviewform. 

Der Drang nach draußen auf die Straße und ins Gelände stellt ein weiteres Charakteristikum des Kanaltheaters dar. Die Reisen des mal großen und mal ganz kleinen Gulliver wurden 2016 ans Wasser und in den Wald verlegt. Gulliver war ein Geflüchteter, nein, drei Geflüchtete, mit jeweils anderen Fluchtgeschichten, aber doch ähnlichen Mustern, ähnlichen Leiden, wie sie in jenem Jahr aufgrund der Massenfluchten nach der Niederlage der Demokratiebewegung in Syrien auch in Deutschland ankamen. „Gulliver“ war ein Stationendrama im Gelände, aufgeführt von 40 Darsteller:innen. Manche von ihnen verfügten über Theatererfahrung und ausgebildete Stimmen. Gerade die, deren Stimmen eben nicht gebildet sind, sorgen in den Aufführungen des Kanaltheaters für ein ganz besonderes, ja paradoxes Moment. Sie lassen einerseits die Worte und Sätze vertrauter und authentischer erscheinen. Die Sprachmelodie des Heimatdialekts wirkt gelegentlich aber auch wie ein Filter, der noch die Fremdheit des Gesagten betont, diese Fremdheit im nächsten Moment jedoch geradezu magisch wieder auflöst und die Erfahrungen und Geschichten von anderen nahe rückt an die eigene Heimat, das eigene Leben.  
Vor den Tabus, vor verdrängten Erinnerungen scheut sich das Kanaltheater ebenfalls nicht. Im Frühjahr 2016 erkundete es gemeinsam mit Jugendlichen aus Deutschland und Polen das Gelände des ehemaligen KZ-Außenlagers. Gemeinsam lösten sie aus dem noch vorhandenen Gemäuer der Halle und dem längst überwucherten Standort der Baracken Geschichten über die Leiden von Zwangsarbeit, Zwangsmigration und Gefangenschaft heraus und brachten sie zurück ins Bewusstsein der Heutigen. Die melancholische Stimmung beim Betrachten der zum Verrotten gebrachten Industrie-Hinterlassenschaft der DDR wurde weggeblasen durch das Erschrecken über die Verbrechen der Generationen davor. 

Das Kanaltheater reibt sich an diesen Geschichten. Es transformiert sie in Anlässe des Begegnens, verknüpft Köpfe und Herzen dabei. Es bringt auch die Körper in Bewegung, sei es durch die Spielorte im Freien, sei es auch durch den live produzierten Punkrock – ein weiteres Charakteristikum der Begegnungen. 

Ja, das Kanaltheater ist laut, es ist schrill, es ist bunt. Es sorgt für Kontraste im erdenschweren Brandenburg. Von der Heimatbasis Eberswalde aus strahlt es mittlerweile auch in andere Orte des Landes aus – mit „Versprochen ist Versprochen“ (2019/20), einem mobilen Kneipenstück über Vertrauen, über Lüge, Wahrheit und Fake News. In ihm wird das Publikum im übertragenen wie auch wörtlichen Sinn zum Verlassen der analogen und digitalen Stammtische gebracht – ein Theater eben, das bewegt, das mit Menschen in deren Sprache spricht, ihnen dabei aber nicht nach dem Munde redet.

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