ADAM CZIRAK

Partizipation an den Heimsuchungen der Vergangenheit

Reenactments sind inszenierte Situationen, in denen Episoden unserer Geschichte nachgestellt und wieder erlebt werden können. Die Rede ist von Aufführungsformaten, in deren Rahmen historisch relevante oder in Vergessenheit geratene Momente unserer Vergangenheit erneut aufgeführt werden. Diese Praxis der Wiederaneignung verbreitete sich in den Vereinigten Staaten der 1960er Jahre als dort die so genannten Civil-War-Reenactments zur Hundertjahrfeier des amerikanischen Bürgerkriegs aufgeführt wurden. Das Format des Reenactments hat seine Wurzeln dementsprechend in der amerikanischen Hobbykultur, findet aber seit den Nullerjahren auch im europäischen Raum Verbreitung, vor allem deshalb, weil es als ästhetische Anordnung besonders gut dafür geeignet ist, Zuschauende in das szenische Geschehen zu involvieren oder nicht-professionelle (Schau-)Spielerinnen in die Aufführung mit einzubeziehen. Die Partizipation an einem Reenactment führt nicht selten dazu, dass man Zuschauende und Handelnde, Künstlerinnen und Betrachterinnen nicht mehr scharf voneinander trennen kann. Dass Reenactments nicht nur zur dokumentarischen, möglichst getreuen Wiederholung der Vergangenheit dienen, sondern geradezu unseren Glauben an der vollständigen und fehlerfreien Rekonstruierbarkeit der Geschichte unterlaufen, dafür stellt auch die Eberswalder Reenactment-Reihe TATORT LÜCKE sehr plastische Beispiele dar: Goethestr. 23 b, Gas! Werk Ka! Boom, Meyers Radrennbahn Finow, Ungarnspielplatz und Kaiserbad am Weidendamm sind ortspezifische Inszenierungen, die im öffentlichen Raum stattfinden und somit der Unkontrollierbarkeit des Wetters, des Straßenlärms und der (un)gewollten Interventionen durch andere Akteure der Stadt ausgesetzt sind. Doch nicht nur das: In allen Reenactments treten mehrere Sichtweisen auf das historische Geschehen zutage und die Spielerinnen bringen immer auch die blinden Flecken der Erinnerung bzw. ihrer Recherchen in den jeweiligen Erzählungen zum Ausdruck. Sie suggerieren nicht, dass die tragischen Vorfälle oder die unwiederbringlich verloren gegangenen Schauplätze der Stadt vollständig und lückenlos nacherzählt bzw. wieder aufgebaut werden könnten. Vielmehr wählen die Sprecherinnen und Kommentatorinnen eine spielerische Artikulationsweise, in der Momente der Differenz, der Inkohärenz und der Störung – im Gegensatz zu klassischen Theaterformen – offen gezeigt und reflektiert werden. Die Leerstellen und nicht-inszenierbaren Dimensionen der Erinnerungsarbeit, die auf programmatische Weise auch im Titel der Reenactment-Serie TATORT LÜCKE anklingen, haben in allen Aufführungen geradezu eine dramaturgische Funktion, insofern sie auf die Instabilität einer ‚authentischen‘ oder ‚wahren‘ Wiederbelebung des Gewesenen hinweisen. Die Spurensuchen aus Eberswalde nehmen Reenactments nicht anders denn als Visitationen aus der Vergangenheit in den Blick, die die herkömmliche Darstellungsrelation von Historischem und Gegenwärtigem, ja ‚Original‘ und ‚Kopie‘, außer Kraft setzen, Dimensionen der Jetztzeit und der Geschichte ‚durcheinanderbringen‘ und dementsprechend die Konturen zwischen Faktizität und Fiktionalität, Geplantem und Unvorhergesehenem, Dokumentarischem und Spielerischem bewusst verwischen. Besonders in Goethestr. 23 b und in Gas! Werk Ka! Boom fällt die Fragmentiertheit des Wiederholten ins Auge: Die Erzählungen muten wie Versatzstücke aus Recherchen und individuellen Erinnerungen an, die neu zusammengesetzt, miteinander in Dialog gebracht werden, um eine Lanze für die Offenheit von Geschichte(n) zu brechen und die Unmöglichkeit einer illusorischen Wiederholung der Vergangenheit mit auszustellen.


In Meyers Radrennbahn Finow und in Ungarnspielplatz kommen Reenactmentformate zum Vorschein, die besonders auf die körperliche und kinästhetische Teilnahme des Publikums setzen. Sie weisen über den Vorgang kognitiver Wahrnehmung und Interpretation hinaus und offerieren allen Anwesenden die Möglichkeit der Mitgestaltung. Bereits im ästhetischen Rahmen der einzelnen Reenactments ist somit eine konstitutive Rolle der Zuschauerinnen angelegt, insofern diese zu Ko-Produzentinnen erhoben bzw. miteinander ins Verhältnis gesetzt werden. Durch Handlungsanweisungen, offene Inszenierungsstrukturen oder direkte Adressierungen werden Spielsituationen geschaffen, die gerade die Unabschließbarkeit des Erinnerns betonen.


Vor diesem Hintergrund setzen sich alle Reenactments von der Ambition einer authentischen Nachstellung von Geschichte ab, einer Ambition also, die nicht nur die frühen amerikanischen Reenactments und deren Rekonstruktionen von historischen Schlachten im Originalkostüm auszeichneten, sondern auch jene künstlerischen Reenactments – etwa diejenigen von Milo Rau –, die Geschichte ausschließlich detailgetreu bzw. wie Maria Muhle schreibt, „in der richtigen Weise“ in Szene zu setzen suchen. Die Reenactments aus Eberswalde könnte man vielmehr als „epische Reenactments“ bezeichnen, die in der Wiederbelebung der Vergangenheit Erzählerfiguren und Stellvertreter*innen exponieren und die indirekte Rede gegenüber intakter schauspielerischer Anverwandlungen bevorzugen.
Fragt man nach dem künstlerischen Anliegen in den Reenactments von TATORT LÜCKE, so lässt sich sagen, dass es in dieser Serie von Aufführungen weniger um den Anspruch geht, einschneidende Episoden der Stadtgeschichte eins zu eins in die Gegenwart zu übertragen und hautnah wieder erlebbar zu machen, sondern darum, sich zur Vergangenheit in Verhältnis zu setzen und eine Botschaft für die Gegenwart zu formulieren, die eher in der Sensibilisierung für Geschichte als in ihrer Rekonstruktion besteht. Durch die Möglichkeit des Zusammenseins bzw. der kreativen Partizipation an der Reaktivierung von Stadtgeschichte eröffnen die Reenactments von TATORT LÜCKE einen Raum, in dem man die Mitglieder der Stadtgemeinde sowohl an Erinnerungen als auch an Zukunftsvisionen partizipieren lässt. Politisch ist dieser Anspruch deshalb, weil man hier – im antiken Sinne des Begriffs der Teilhabe – nicht nur individuelle Entscheidungen trifft, sondern stets auch das Handeln Anderer bzw. das Leben des Gemeinwesens mitbestimmt und eine Verantwortung für das Involviertsein in die kollektiven Handlungsprozesse einer Gemeinschaft trägt.

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